In den letzten Monaten hatten sie sich oft gestritten, meist über Kleinigkeiten, die dann zu großen Themen anwuchsen. Jana fühlte sich missverstanden, Ben fühlte sich überfordert. Die Reise nach Östergötlands län war ihre letzte Hoffnung, etwas von dem Zauber zurückzubringen, den sie früher so selbstverständlich teilten.
Am ersten Abend in ihrem Ferienhaus, das idyllisch am Waldrand gelegen war, setzte sich eine ungewohnte Ruhe in ihren Herzen fest. Der Wind rauschte durch die Bäume, und der Duft der Pinien lag in der Luft. Jana kochte etwas Einfaches – Spaghetti mit Tomatensauce – während Ben draußen auf der Terrasse den Sonnenuntergang beobachtete. Sie sprachen wenig, doch die Nähe fühlte sich nicht mehr unangenehm an. Vielleicht war es der Ort, der ihnen half, die Schwere loszulassen, die sie so lange belastet hatte.
Am nächsten Tag beschlossen sie, eine Wanderung zu machen. Östergötlands län bot eine Vielfalt an Wanderwegen, die durch endlose Wälder, entlang idyllischer Flüsse und hinauf zu felsigen Aussichtspunkten führten. Der Plan war es, den Omberg zu erklimmen, einen der höchsten Punkte in der Region, von dem man einen atemberaubenden Blick über den Vättern-See hatte.
Der Weg begann harmlos, der leichte Aufstieg führte sie durch dichte Wälder und vorbei an kleinen Bächen. Doch je höher sie kamen, desto unruhiger wurde das Wetter. Schwarze Wolken zogen am Horizont auf, und der Wind nahm an Stärke zu. Jana spürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als sie den ersten Donnerschlag hörte.
„Vielleicht sollten wir umkehren“, schlug sie vor, doch Ben schüttelte den Kopf. „Wir sind fast oben. Lass uns weitergehen.“ Jana zögerte, folgte ihm aber schließlich. Der Regen setzte plötzlich ein – zuerst nur als leichter Nieselregen, doch er wurde schnell stärker. Schon bald waren sie beide durchnässt, der Boden unter ihren Füßen verwandelte sich in Matsch, und der Weg wurde rutschig.
Als sie endlich den Gipfel erreichten, tobte der Sturm um sie herum. Der Blick auf den See, der sonst so spektakulär war, wurde von dunklen Wolken und peitschendem Regen verdeckt. Jana zog ihre Jacke fester um sich, während Ben suchend nach einem Unterschlupf Ausschau hielt. Doch es gab keinen.
„Wir müssen zurück!“, rief Jana über das Heulen des Windes. Doch in diesem Moment passierte das Unfassbare. Ein Blitz zuckte über den Himmel, und ein ohrenbetäubender Donner folgte. Der Baum, unter dem sie standen, zitterte und begann zu kippen. Ben packte Jana am Arm und zog sie weg, doch der nasse Boden unter ihren Füßen ließ sie beide stürzen.
Jana schrie auf, als sie den Abhang hinunterrutschten, sich an Ästen und Wurzeln festklammernd, um den Sturz zu bremsen. Ben landete hart auf einem Felsen und stöhnte vor Schmerz. Jana rutschte hinter ihm her, ehe sie zum Stillstand kam. Der Regen prasselte weiter auf sie nieder, doch es war nicht der Sturm, der ihr die Tränen in die Augen trieb – es war die Angst, Ben könnte ernsthaft verletzt sein.
„Ben!“, rief sie panisch, doch er antwortete nicht. Mit zitternden Händen tastete sie nach ihm, spürte seine Haut unter ihren Fingern. Er atmete noch, doch er war bewusstlos. Die Panik in Jana wuchs. Sie wusste, dass sie Hilfe brauchten, aber mitten im Wald, ohne Orientierung und bei diesem Unwetter schien es aussichtslos.
Die Minuten vergingen qualvoll langsam, während Jana versuchte, Ben wachzurütteln. Doch dann, gerade als sie den Mut fast verloren hatte, schlug er die Augen auf. „Jana?“, murmelte er schwach. Sie atmete erleichtert auf, die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ben, du lebst!“
Gemeinsam, trotz der Schmerzen und der Angst, schafften sie es, sich wieder aufzurichten und den Weg zurückzufinden. Es war ein langer, mühsamer Weg, doch als sie endlich das Ferienhaus erreichten, fühlte sich alles anders an. Die Nähe, die sie auf der Reise verloren geglaubt hatten, war in diesem Moment zurückgekehrt – stärker als je zuvor.
In den darauffolgenden Tagen verbrachten sie ihre Zeit in Östergötlands län damit, den Sturm hinter sich zu lassen. Sie erkundeten die friedlichen Landschaften, saßen stundenlang am See und sprachen über alles, was unausgesprochen geblieben war. Die Stille zwischen ihnen war nun eine andere – keine bedrückende Leere, sondern eine warme, tröstliche Ruhe.
Als sie die Region verließen, wussten sie, dass Östergötlands län für immer ein Teil ihrer Geschichte sein würde. Der Sturm hatte sie nicht nur herausgefordert, sondern auch die Mauern eingerissen, die sie voneinander getrennt hatten. Es war ein Neuanfang, der ihnen zeigte, dass selbst im tiefsten Dunkel noch Licht zu finden ist – wenn man nur bereit ist, danach zu suchen.