Die Suche nach dem unsichtbaren Sonnenuntergang
Du folgst einem schmalen Kiesweg, vorbei an rot gestrichenen Holzhäusern, in denen scheinbar niemand wohnt. Jede Veranda wirkt leergefegt, aber Du spürst, dass sich hinter den Fenstern neugierige Augen verbergen. Hin und wieder glaubst Du, ein leises Kichern zu hören – vielleicht echte Menschen, vielleicht aber auch nur ein alter Specht, der sich über Dein Wander-Outfit amüsiert.
Allmählich merkst Du, dass es einfach nicht dunkel werden will. Die Sonne steht über Dir, als hätte sie die Zeit vergessen. Du schaust auf Deine Uhr. Zwanzig Uhr. Ein grelles Licht umschmeichelt Dich, als wären Scheinwerfer auf Dich gerichtet und Du müsstest gleich eine Broadway-Show starten. „Gute Idee!“, denkst Du, „Ein spontaner Singsang zur Feier des Tages?“ Doch Dein Magen knurrt bedrohlich und reißt Dich aus Deinen glamourösen Träumen zurück auf den steinigen Boden der Tatsachen.
Um Dich von Deiner wachsender Verwirrung abzulenken, setzt Du Deinen Weg fort. Auf einmal erspähst Du in der Ferne seltsame Gestalten, die um eine Art geschmückten Pfahl tanzen. Schwedische Volksmusik dringt an Dein Ohr, schief, aber herzlich. Du grinst unwillkürlich: „Ha, da muss ich hin! Wenn ich schon die Mittsommernacht erleben will, dann bitte schön authentisch, so wie es sich gehört.“
Der Tanz ums Kuchenblech
Als Du näher herankommst, erweist sich der vermeintliche Pfahl als riesiger hölzerner Stab, um den frische Birkenzweige und Blumenkränze gebunden sind. Die Dorfbewohner – alt, jung, bunt gekleidet und scheinbar in kollektiver Ekstase – schwingen ihre Hüften, hüpfen im Kreis und singen Lieder in einer Sprache, die Du höchstens aus IKEA-Katalogen kennst. Einer der Tänzer, ein älterer Herr mit verschmitztem Lächeln, zerrt Dich ohne Vorwarnung in den Kreis, und ehe Du Dich versiehst, hoppst Du wie ein Kaninchen zu den Klängen einer Fiedel, deren Spieler offenbar dauerhaft auf einer Wolke der Glückseligkeit schwebt.
Plötzlich drückt Dir eine nettes Fräulein einen Teller in die Hand. Darauf liegt ein Stück Kuchen, aus dem der Geruch von Kardamom strömt, so intensiv, dass sich Deine Nase spontan dazu entscheidet, Dir schnurrende Glücksgefühle zu senden. Du weißt zwar nicht, was Du da isst, doch es schmeckt so gut, dass Du sofort noch ein Stück forderst. Deine Wangen glühen, und die Lieder klingen immer lauter. Du tanzt weiter und stellst fest, dass Du bemerkenswerte Talente besitzt, wenn es darum geht, Dich im Kreis zu drehen – jedenfalls, solange niemand von Dir erwartet, den Rhythmus zu treffen.
Die Sonne, die nur scheinbar müde wird
Irgendwann lockert sich die Runde, und Du schleichst Dich für einen Moment davon, um frische Luft zu schnappen. Die hast Du zwar schon die ganze Zeit um Dich herum, aber es klingt so schön nach einer klischeehaften Ausrede. In den letzten Zügen der Nacht – die eigentlich immer noch wie ein später Nachmittag aussieht – entdeckt Dein müder Blick einen schwelgenden Horizont in zarten Pastellfarben. „Das muss sie sein, die sagenumwobene Mittsommernacht erleben-Erfahrung“, denkst Du und wirst ein wenig sentimental.
Ein leises Klopfen an Deiner Schulter: Ein junger Mann steht da, drückt Dir wortlos ein Glas mit golden schimmernder Flüssigkeit in die Hand. Er nickt Dir ermunternd zu und hebt selbst den Becher – „Skål!“ – was so viel heißt wie „Prost!“ oder auch „Hier hast Du den Schwedisch-Mantel der Unbesiegbarkeit!“. Du nimmst einen Schluck und spürst, wie ein köstlich-wärmendes Kribbeln bis in Deine Ohrläppchen wandert. Irgendein Kräuterschnaps, der wohl eigens für diesen Anlass gebraut wurde. Du glaubst, einen Hauch von Waldbeeren zu schmecken, gemischt mit dem Aroma längst vergangener Wikinger-Schlachten.
Das große Dilemma im hellen Dunkel
Als Du langsam realisierst, dass es bereits mitten in der Nacht ist, musst Du staunen. Das Licht hält sich hartnäckig, die Müdigkeit in Deinen Beinen ebenso, und doch willst Du nicht ins Bett. Du kannst Dich gar nicht sattsehen an diesem surrealen Schauspiel: Es riecht nach Tau, Wiesenblumen und verschwitzten Tanzschuhen, die irgendwo am Waldrand liegen und sich eine Pause gönnen.
Während Du noch unschlüssig bist, ob Du wieder in den Tanzkreis springen oder Dich lieber zu einem wohlverdienten Nickerchen niederlassen möchtest, packt Dich eine kecke Oma am Ärmel und zerrt Dich zurück zu den anderen. Sie scheint eine unbezähmbare Energie zu haben und bringt Dir irgendeinen skurrilen Tanzschritt bei, bei dem Du heftig mit den Knien wackeln und lustige Geräusche machen musst. Du findest das einerseits peinlich, andererseits absurd-lustig – warum nicht, Du bist schließlich hier, um neue Erfahrungen zu sammeln.
Der unauffindbare Nachthimmel
Zwei Stunden später, oder waren es vier? Du hast längst die Zeit vergessen. Die Sonne, die Du zwischendurch am Horizont verschwinden sahst, ist plötzlich wieder auferstanden. „Hab ich irgendwas verpasst oder bin ich gerade in einer Zeitschleife gefangen?“ murmelst Du vor Dich hin. Vom Schlafengehen hat hier offenbar noch niemand etwas gehört, auch wenn ein paar ausgepowerte Tänzer einfach mitten auf der Wiese eingedöst sind.
Du aber wirst von den Dorfbewohnern mit trällernder Stimme verabschiedet, bevor auch sie langsam Richtung Heimat trudeln. Die Oma klopft Dir das Moos vom Rücken, der junge Mann reicht Dir noch einmal sein Zaubergetränk, und die Fiedel quietscht das letzte Lied – es klingt wie ein zarter Abschiedskuss.
„Tack så mycket!“, rufen sie in Deine Richtung. Das versteht man selbst ohne Sprachkurs: „Danke schön, war schön mit Dir!“
Wenn das Herz vor Heiterkeit überquillt
Und so stehst Du plötzlich wieder allein auf dieser Wiese, die schon etliche Füße plattgetanzt haben. Die Luft ist kühl, aber Du bist innerlich gewärmt von den Eindrücken. Du lächelst in Dich hinein, weil Du weißt, dass Du soeben etwas erlebt hast, das Du nur schwer in Worte fassen kannst – das Surreale, gleichzeitig so Lebendige dieser nordischen Welt.
Mit surrendem Kopf (sowohl vom Feiern als auch vom Mangel an Schlaf) lässt Du Dich ins Gras fallen und denkst über die Ironie des Lebens nach: Du hast nun wirklich die Mittsommernacht erleben dürfen, und dabei war sie so hell, dass Du sie fast für einen Nachmittag gehalten hättest. Doch genau das ist ihr Zauber – sie kommt als stille Rebellin daher, die das Verständnis von Tag und Nacht auf den Kopf stellt und Dich dazu einlädt, das Leben in seiner ganzen Verrücktheit zu feiern.
Und während Deine Augen allmählich zufallen, glaubst Du noch, im fernen Wald das Echo der Fiedel zu vernehmen, begleitet vom Murmeln eines rauschenden Bachs und dem sanften Rauschen der Tannen. „Ja, Du irrwitzige Mittsommernacht“, flüsterst Du in den beginnenden Morgen, „heute hast Du mich vollends um den Verstand gebracht – und genau dafür liebe ich Dich.“