Eine einsame Reise ins Ungewisse
Markus hatte schon immer davon geträumt, die abgelegenen Orte Skandinaviens zu erkunden. Als er auf einer Reise-Website ein Angebot für einen Urlaub in Gotlands län entdeckte, war die Entscheidung schnell gefallen. Die größte Insel Schwedens, reich an Geschichte, mysteriösen Ruinen und einsamen Küsten – genau das, wonach er suchte, um dem Lärm und der Hektik seiner Stadt zu entfliehen.
Die Fähre nach Gotland war angenehm ruhig. Markus saß an Deck und genoss den Blick auf das weite Meer, das ihn bald zu seinem Ziel bringen würde. Er hatte ein altes Ferienhaus gemietet, das tief in den Wäldern der Insel versteckt lag, abseits der Touristenpfade. „Genau das Richtige“, dachte er sich. Die Vorstellung, allein inmitten der Natur zu sein, hatte etwas Verlockendes und Befreiendes – doch er ahnte nicht, dass diese Reise ihn weit mehr kosten würde, als nur seine Nerven.
Als Markus die Insel erreichte und sein Mietwagen ihn über die schmalen, gewundenen Straßen von Gotlands län führte, spürte er eine seltsame Spannung in der Luft. Der Himmel war düster, obwohl es erst Nachmittag war, und die Wolken hingen schwer über den endlosen Feldern und Wäldern. „Es wird wohl bald regnen“, murmelte er vor sich hin und fuhr weiter in die Einsamkeit der Insel.
Das Ferienhaus, das er gebucht hatte, war alt – viel älter, als es auf den Fotos ausgesehen hatte. Die Fenster waren verstaubt, und das Dach schien sich leicht durchzubiegen. Aber das störte Markus nicht. Er war nicht hier, um in Luxus zu schwelgen. Er wollte Ruhe, und die würde er hier definitiv finden. Oder so dachte er.
Die ersten Stunden verbrachte er damit, die Umgebung zu erkunden. Gotlands län war bekannt für seine unberührte Natur, aber auch für die mysteriösen, uralten Gräber und Runensteine, die überall verstreut lagen. Markus fühlte sich wie ein Entdecker, als er durch die kargen Wälder streifte und die stillen Küstenlinien der Insel bewunderte. Doch als die Dämmerung hereinbrach, spürte er ein merkwürdiges Unbehagen. Die Stille, die er den ganzen Tag genossen hatte, schien plötzlich drückend und bedrohlich.
Zurück im Haus versuchte er, es sich gemütlich zu machen. Das alte Holz knarrte unter seinen Schritten, und der Wind pfiff durch die Ritzen der Fensterrahmen. Während er sein Abendessen kochte, fiel ihm auf, dass der Strom flackerte. „Das passiert halt auf einer Insel“, sagte er sich und zuckte mit den Schultern.
Doch in dieser Nacht begann der Albtraum.
Gegen Mitternacht wurde Markus von einem Geräusch geweckt. Ein leises Kratzen, als ob etwas – oder jemand – an den Wänden des Hauses entlangschleichen würde. Er setzte sich im Bett auf und lauschte angespannt. Zuerst dachte er, es sei der Wind, doch das Geräusch wurde deutlicher. Es kam näher. Langsam schlich er zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Nichts. Nur die Dunkelheit des Waldes, der das Haus umgab. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ ihn nicht los.
Am nächsten Tag versuchte Markus, das seltsame Erlebnis abzutun. Vielleicht war es nur seine Fantasie, die ihm einen Streich spielte. Aber je länger er in Gotlands län blieb, desto mehr merkte er, dass etwas nicht stimmte. Das Kratzen kehrte jede Nacht zurück, begleitet von flüsternden Stimmen, die er nicht verstehen konnte. Als er eines Morgens aufwachte, fand er seltsame, tiefe Kratzer an der Außenseite der Fensterrahmen. Es sah aus, als ob jemand – oder etwas – versucht hätte, hineinzukommen.
Unruhig beschloss Markus, im Dorf nachzuforschen. Er fuhr in den nächsten kleinen Ort und fragte in einem Café nach dem Haus, das er gemietet hatte. Die ältere Frau hinter der Theke wechselte einen nervösen Blick mit dem Mann neben ihr. „Das Haus… gehört niemandem mehr“, sagte sie leise. „Es steht seit Jahren leer.“
„Aber es wurde mir als Ferienhaus vermietet!“, protestierte Markus, doch die Frau schüttelte nur den Kopf. „Das ist nicht möglich. Keiner hier geht dorthin. Es heißt, das Haus sei… verflucht.“
Markus lachte nervös. „Verflucht? Das ist doch Unsinn.“
Doch die Einheimischen waren ernst. „Vor vielen Jahren lebte dort eine Familie“, erklärte der alte Mann, der bisher schweigend zugehört hatte. „Aber nach dem Tod des jüngsten Sohnes begannen seltsame Dinge. Sie hörten Kratzen an den Fenstern, Schreie in der Nacht… und irgendwann verschwand die Familie spurlos.“
Die Worte hallten in Markus’ Kopf wider, als er zurück zum Haus fuhr. „Verflucht“, murmelte er, während er den Blick über den dichten Wald gleiten ließ. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Doch das Unbehagen wuchs. Er entschied, dass es besser wäre, die Nacht im Auto zu verbringen, doch als er das Haus erreichte, fand er zu seiner Überraschung die Eingangstür weit offen vor – obwohl er sie fest verschlossen hatte, bevor er gegangen war.
Das Kratzen begann früher an diesem Abend. Zuerst leise, dann immer lauter. Markus saß zitternd im Auto, während er versuchte, nicht an die Geschichten zu denken, die er gehört hatte. Plötzlich sah er es: eine dunkle Gestalt, die sich am Waldrand bewegte, nur wenige Meter vom Haus entfernt. Sie war groß, mit langen, verzerrten Gliedmaßen, und bewegte sich langsam, aber zielgerichtet. Markus spürte, wie ihm das Herz in die Kehle rutschte. „Das kann nicht real sein“, flüsterte er und startete den Wagen. Doch der Motor sprang nicht an.
In völliger Panik versuchte er es wieder und wieder, während die Gestalt sich dem Auto näherte. Schließlich, als sie nur noch wenige Meter entfernt war, sprang der Motor an. Markus raste den Feldweg hinunter, so schnell er konnte, und ließ das Haus und die Gestalt hinter sich.
Am nächsten Tag verließ er Gotlands län, ohne zurückzublicken. Als er sicher auf dem Festland war, atmete er tief durch und schwor sich, nie wieder nach Antworten zu suchen, wenn es um uralte Legenden ging. Das Erlebnis auf Gotland würde ihn für den Rest seines Lebens verfolgen – doch eines war sicher: Er war mit heiler Haut davongekommen. Und das war alles, was zählte.
Selbst Jahre später, als er Freunden von seiner „verrückten“ Reise erzählte, konnte er sich nie ganz erklären, was in jener Nacht auf Gotland wirklich geschehen war. War es eine Erscheinung, ein Traum – oder war der Fluch von Gotlands län doch real? Eines wusste Markus mit Sicherheit: Er würde diesen Teil der Welt nie wieder allein besuchen.