Das verschneite Tor
Endlich erreichten sie die kleine Ansammlung hölzerner Hütten, die den Eindruck einer anderen Welt vermittelte. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ein paar Rentiere trotteten teilnahmslos an ihnen vorbei, als die Familie in Richtung des zentralen Platzes ging, an dem sich laut Reiseführer die Ältesten versammeln sollten. Das Dorf wirkte jedoch wie ausgestorben. Eine dicke, unberührte Schneedecke lag über jeder Hütte, fast so, als wäre hier seit Wochen niemand gewesen. Jonas pochte mit klammen Fingern an mehrere Türen, doch es reagierte niemand. Immer wieder huschten Schatten hinter Fenstern vorbei, doch sobald er näher trat, verschwanden sie.
In diesem Moment überlegte Jonas ernsthaft, ob es nicht sicherer wäre, umzukehren. Doch Clara bestand darauf, das Sami Dorf besuchen zu können, wie geplant. Außerdem ging es ihr gegen das Gefühl, einfach unverrichteter Dinge abzureisen. Vielleicht schliefen die Dorfbewohner bloß, oder sie waren in einer Versammlung, die der Familie unbekannt war. Und so rückte die Nacht näher, ohne dass sie wussten, was sie erwartete.
Nächtliche Schrecken
In der kleinen Herberge, die sie laut Beschreibung mieten konnten, flackerte das Licht in gespenstischen Intervallen. Der Ofen war kalt, die Betten wirkten, als hätte seit Monaten niemand darin geschlafen. Als Lena und Mats sich zum Schlafen legten, hörten Jonas und Clara ein unheimliches Kratzen an der Tür. Jonas öffnete sie abrupt – doch nur eisige Kälte schlug ihm entgegen. Kein Tier, kein Mensch war zu sehen.
Die Stunden zogen sich, und am späten Abend begann jemand – oder etwas – gegen die Fensterläden zu schlagen. Lena klammerte sich ängstlich an Mats. Die wenigen Kerzen, die sie dabei hatten, warfen flackernde Schatten an die Wände, und in jedem Schatten glaubten sie ein Wesen zu erkennen, das wie ein entstellter Mensch aussah. Als Jonas vor Schreck eine Kerze fallen ließ, entzündete sich kurz das trockene Stroh auf dem Boden. Nur mit Mühe konnte er die Flammen austreten, während das hämische Kichern einer unsichtbaren Präsenz durch die Räume gellte.
Die Stimme der Ältesten
In dem Moment, als alle glaubten, den Verstand zu verlieren, klopfte es klar und laut an der Tür. Eine alte Sami-Frau trat ein – begleitet von einer eigenartigen Stille, die den Raum füllte und das unheimliche Gekicher verstummen ließ. Sie war in dicke Felle gehüllt, ihr Gesicht von Runzeln durchzogen. Sie sprach mit ruhiger Stimme zu der zitternden Familie, erläuterte, dass das Dorf seit langem von einem dunklen Fluch befallen sei. Nur die Ältesten wussten davon, hatten jedoch geschwiegen, in der Hoffnung, dass sich das Böse eines Tages von selbst verziehen würde.
Ihrer Erzählung zufolge war eine feindselige Macht mit den Nordwinden gekommen, als das Dorf einst verflucht wurde. Die Leute starben, flohen oder verstummten vor Angst. Was Jonas und Clara mit ihren Kindern erlebt hatten, war das grausame Spiel dieser bösen Macht, die sich offenbar an die Anwesenheit neuer Menschen klammerte. Nur ein rituelles Feuer unter den Nordlichtern könne den Fluch brechen. „Folgt mir“, sagte die Alte mit zitternder, aber fester Stimme.
Das Versprechen des Lichts
Draußen war es finstere Polarnacht, als die Familie Berg mit der alten Sami-Frau einen Hügel hinaufstieg. Der Weg führte sie über gefrorene Moore und vorbei an kahlen Bäumen, deren Äste wie knochige Finger in den schwarzen Himmel ragten. Endlich kamen sie an eine Lichtung, in deren Mitte ein Feuerplatz war. Die Alte begann, uralte Worte zu singen, und entfachte mit einiger Mühe das Feuer. Während orangefarbene Flammen hochloderten, begannen Nordlichter in Wellen über ihnen zu tanzen.
Zuerst zischte es bedrohlich in der Dunkelheit, als wolle das Böse noch einmal zuschlagen. Doch dann – wie ein leiser, ferner Trommelschlag – ebbte das grässliche Wispern ab. Die Schatten, die das Dorf in Angst und Schrecken versetzt hatten, zogen sich klagend zurück. Die Lichter am Himmel schimmerten in Grün und Lila, während Jonas, Clara, Lena und Mats sich gegenseitig fest in den Armen hielten.
Die Alte atmete schwer. „Es ist noch nicht vorbei, aber Ihr habt uns Mut gemacht. Dank Euch wird das Dorf eines Tages wieder erwachen.“ In den nächsten Minuten erschien das Leuchten der Nordlichter immer heller, und die ganze Familie Berg verspürte eine seltsame Wärme inmitten der polaren Nacht.
Ein unerwartet friedliches Erwachen
Am nächsten Morgen erwachten sie in ihren Betten. Die unheimlichen Geräusche waren verstummt, die Herberge wurde von sanftem Tageslicht erhellt. Jonas öffnete vorsichtig die Tür und sah, dass die kleinen Häuser des Dorfes nun von Leben erfüllt waren. Ein paar Sami-Kinder spielten mit einem Rentier, und ein Mann grüßte freundlich. Keine Spur mehr von verstörenden Schatten.
Vorsichtig traten Clara, Lena und Mats hinaus. Ein alter Sami zeigte ihnen mit einem Lächeln, wo sie traditionelle Handwerkskunst kaufen konnten. Eine junge Frau lud sie zu einem heißen Tee in ihr Haus ein. Und da war auch die alte Frau wieder, die ihnen in der Nacht geholfen hatte – als wäre sie nun endlich frei von ihrer bangen Sorge.
Nach all dem Schrecken atmete die Familie Berg zum ersten Mal befreit auf. Ganz unerwartet wurde der einst schaurige Ort zum Inbegriff von Gastfreundschaft und wärmender Gemeinschaft. In diesem Augenblick war allen klar: Die Entscheidung, dieses Sami Dorf besuchen zu wollen, hatte nicht nur einen uralten Fluch gelindert, sondern auch sie selbst zusammengeschweißt. Mit diesem neu gewonnenen Gefühl der Zusammengehörigkeit traten sie schließlich die Heimreise an. In ihren Herzen wussten sie: Die dunklen Mächte mögen bedrohlich gewesen sein, doch der Zusammenhalt und das Versprechen der alten Sami-Frau hatten ihnen zu einem Happy End verholfen, das ihnen