Der Sessel, der sich nachts bewegte
Noch in der ersten Nacht begann das Unheil. Es fing mit Kleinigkeiten an. Der Couchtisch stand morgens leicht verschoben. Die Stühle – alle bis auf einen – waren plötzlich um den Esstisch gruppiert, als hätte jemand ein Geistermeeting abgehalten. Und Lara bestand darauf, dass sie gesehen habe, wie sich der ikonisch geformte Lesesessel um exakt 90 Grad drehte. Allein. Lautlos.
„Vielleicht ist das Teil des skandinavischen Designs,“ murmelte Jens beim Frühstück. „Flexibel. Modular. Paranormal.“
Caro aber wurde langsam nervös. Sie liebte zwar stilvolle Einrichtung, aber nur wenn sie sich an die Gesetze der Schwerkraft hielt.
Das Regal der verlorenen Seelen
Am dritten Tag entdeckten sie es: ein wandhohes, perfekt in die Vertäfelung eingebautes Regal mit exakt 24 Fächern. 23 davon waren leer. Im letzten lag ein kleiner, handschriftlich beschrifteter Zettel: „Füge dich ein.“
Jens, der sich seit jeher für rational hielt, steckte den Zettel ein und versuchte zu lachen. Lara weigerte sich, das Wohnzimmer weiterhin zu betreten. Caro wollte gehen. Doch das Auto sprang nicht an. Der Tank war leer, obwohl er am Vortag noch halb voll gewesen war. Der Sessel drehte sich jetzt tagsüber. Immer in Richtung des Regals.
Und dann verschwand Jens.
Ein Stuhl zu viel
Sie suchten ihn überall – auf der Terrasse, im kleinen Wald hinterm Haus, sogar in der stylisch designten Sauna, die völlig überhitzt war, obwohl niemand sie eingeschaltet hatte. Als sie zurückkamen, stand ein weiterer Stuhl am Esstisch. Identisch. Nur mit einem eingeritzten Namen: Jens.
Caro schrie. Lara schrie. Die Wände schrien mit.
Im Regal war jetzt ein zweiter Zettel. „Er passt perfekt.“
Das Comeback des guten Geschmacks
Gerade als Caro und Lara sich zur Flucht vorbereiteten (Plan: Irgendwas brennbares suchen, das Internet löschen und nie wieder ein Haus betreten), erschien Jens plötzlich – splitternackt, mit einem Kissenbezug auf dem Kopf und einem IKEA-Katalog in der Hand.
„Ich weiß jetzt, wie wir hier rauskommen“, sagte er. „Wir müssen das Design respektieren. Aber nicht zu sehr.“
Er erklärte, dass der Fluch des Hauses auf der Überperfektion beruhte. Alles musste schön, ordentlich und leer sein – zu leer. Das Haus selbst war allergisch gegen persönliche Gegenstände. Sobald man sich einrichtete, verschlang es einen. Oder machte aus einem einen Stuhl. Vielleicht beides.
Sie mussten das Gleichgewicht stören.
Der Showdown in Beige
Sie begannen, Dinge zu tun, die gegen jede Designregel verstießen: Lara malte einen riesigen pinken Totenkopf auf die Wand. Caro stellte kitschige Schneekugeln ins Regal. Jens zündete eine Lavalampe an. Die Wände begannen zu beben. Der Sessel vibrierte. Der Tisch schmolz.
Doch das Haus gab auf. Plötzlich war es still. Die Tür ging auf. Das Auto sprang an. Das Regal war verschwunden. Nur ein letzter Zettel lag da: „Geschmack ist relativ.“
Happy End im Land des guten Stils
Sie fuhren nach Hause, ließen das Ferienhaus zurück – und entdeckten am Flughafen von Kopenhagen einen kleinen, hübsch eingerichteten Wartebereich.
„Guck mal,“ sagte Caro. „Skandinavisches Design.“
Alle drei lachten. Nervös.
Und doch – ganz tief in ihrem Inneren – wussten sie: Das Thema „Skandinavisches Design entdecken“ würden sie so schnell nicht wieder auf dieselbe Weise betrachten.