Wie ich beinahe zum Rentierhirten wurde
Es gibt Momente im Leben, in denen man sich ernsthaft fragt, wie zur Hölle man hier gelandet ist. Mein Moment kam, als ich mitten in Västerbottens län auf einem schneebedeckten Hügel stand und versuchte, ein flüchtiges Rentier zu fangen, während meine Frau mir fröhlich von unten zuwinkte. Doch beginnen wir von vorn, denn wie immer war das alles die Idee meiner Frau.
„Västerbottens län!“, rief sie begeistert eines Morgens, während sie über eine Karte brütete. „Es ist der perfekte Urlaubsort!“
„Was ist das Besondere an Västerbottens län?“, fragte ich, während ich versuchte, so zu tun, als wäre ich begeistert. Ich weiß, dass es gefährlich ist, solche Fragen zu stellen, denn das bedeutet in der Regel, dass ich in irgendein abscheuliches Abenteuer verwickelt werde.
„Die atemberaubende Natur!“, verkündete sie. „Berge, Wälder, und du wirst es nicht glauben – Rentiere!“
„Rentiere?“, fragte ich und legte mein Frühstücksei zur Seite. „Was sollen wir mit Rentieren anfangen?“
„Wir werden sie hüten!“, rief sie fröhlich. „Es gibt ein Rentierherden-Erlebnis! Das ist typisch für Västerbottens län!“
Ich weiß nicht, ob du schon einmal in deinem Leben das Bedürfnis hattest, eine Rentierherde zu hüten. Ich jedenfalls nicht. Aber meine Frau war entschlossen, dass dies unsere Chance sei, das „wahre Schweden“ zu erleben. Und so landeten wir in Västerbottens län, umgeben von Schnee, Kälte und… Rentieren.
Der erste Tag begann vielversprechend. Unser Guide, ein sympathischer Mann namens Erik, führte uns auf eine schneebedeckte Wiese, auf der sich eine Herde von etwa fünfzig Rentieren friedlich durch den Schnee wühlte. „Die sehen harmlos aus“, dachte ich, während Erik uns erklärte, dass Rentiere im Grunde „sehr kooperative Tiere“ seien.
„Kooperativ, sagst du?“, fragte ich, leicht skeptisch. Ich habe schon zu viele Tiere getroffen, die angeblich „kooperativ“ waren, nur um dann festzustellen, dass sie eine persönliche Fehde mit mir führen.
„Ja, sie sind sehr sanft“, sagte Erik und tätschelte eines der Rentiere, das ihm ergeben folgte. „Du musst nur Ruhe bewahren.“
Ruhe bewahren. Ein einfacher Rat, der in den nächsten Stunden zu einer regelrechten Herausforderung werden sollte. Denn sobald Erik sich entfernte, um „einige Dinge zu erledigen“, und uns die Verantwortung über die Herde übergab, ging alles schief.
Zunächst schien alles in Ordnung. Die Rentiere grasten, ich stand mit verschränkten Armen da und fühlte mich für einen Moment tatsächlich wie ein echter Rentierhirte. Doch dann passierte es: Ein Rentier, nennen wir es „Rudi“, hob plötzlich den Kopf, sah mich an und entschied, dass es Zeit war zu rebellieren.
Rudi rannte los. Nicht gemütlich oder gemächlich – nein, er stürmte wie ein entfesseltes Rennpferd durch den Schnee. Und das Schlimmste? Die anderen Rentiere folgten ihm. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich die friedliche Rentierherde in einen chaotischen Sturm von Hufen und Geweihen, der in alle Richtungen drängte.
„Halt! Stopp!“, rief ich verzweifelt, während ich versuchte, dem Anführer, Rudi, hinterherzulaufen. Doch das Rentier schien nur darauf gewartet zu haben, dass ich die Kontrolle verliere. Es rannte mit beeindruckender Geschwindigkeit den nächsten Hügel hinauf, gefolgt von der gesamten Herde.
„Du musst sie einholen!“, rief meine Frau enthusiastisch von unten. Als ob das so einfach wäre! Ich rannte, stolperte, rutschte aus – und fiel schließlich der Länge nach in den Schnee. Während ich halb erfroren versuchte, mich aufzurappeln, sah ich, wie die Rentiere fröhlich über den Hügel verschwanden.
„Es gibt Schlitten“, sagte Erik, der gerade zurückkam und mich mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete.
„Schlitten?“, keuchte ich, während ich mir den Schnee aus dem Gesicht wischte.
„Ja, du musst ihnen hinterherfahren. Das ist die übliche Methode, um sie zu fangen.“
„Das hättest du mir vielleicht vorher sagen sollen!“, brummte ich, während Erik mir half, mich auf einen traditionellen Holzschlitten zu schwingen. Meine Frau stand daneben und filmte alles begeistert mit ihrem Handy. „Das wird ein großartiger Film!“, rief sie fröhlich.
„Ja, großartig“, murmelte ich und versuchte, mich auf dem Schlitten zu halten, während Erik ihn mit unglaublicher Leichtigkeit den Hügel hinaufsteuerte.
Oben angekommen, sah ich sie: Rudi und seine Kumpanen, die genüsslich einen neuen Fleck Schnee durchwühlten, als wäre nichts gewesen. „Da sind sie“, sagte Erik, als sei das eine völlig normale Alltagssituation.
„Was jetzt?“, fragte ich, noch immer leicht atemlos von meiner Verfolgungsjagd.
„Ganz einfach“, sagte Erik lächelnd. „Wir sammeln sie ein.“
„Sammeln? Wie Kegel nach einem Bowling-Spiel?“, fragte ich ungläubig, doch Erik war schon dabei, die Rentiere mit leisen Rufen und ruhigen Bewegungen zurück in die Herde zu führen. Zu meinem Erstaunen folgten sie ihm tatsächlich.
„Seht ihr?“, sagte meine Frau begeistert. „In Västerbottens län ist die Natur im Einklang mit den Menschen.“
Ich sah sie an, dann die Rentiere, und dann Erik, der tatsächlich aussah, als könnte er das alles im Schlaf machen. Ich dagegen war in eine Katastrophe nach der anderen gestolpert.
„Ich bleibe beim Fangen von Rindfleisch im Supermarkt“, murmelte ich, während ich müde auf den Schlitten sank.
Doch eines wusste ich nun: Västerbottens län war nicht nur für seine atemberaubende Natur und Rentierherden bekannt – es war auch der Ort, an dem ich gelernt hatte, dass Rentiere einen besseren Orientierungssinn hatten als ich. Und vielleicht auch einen besseren Sinn für Humor.